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22.11.15 23:13 Alter: 8 yrs

Doppelresidenz für Kinder: Wieso der Verfassungsgerichtshof irrt

 

Wien. Der Verfassungsgerichtshof kritisiert nicht selten, zu Recht, die mangelhafte Qualität von Gesetzen. Im Gegenzug ist aber auch Kritik an Entscheidungen des VfGH angebracht. So sah der VfGH in einem äußerst zweifelhaften Erkenntnis die verpflichtende Vorschreibung des hauptsächlichen Aufenthalts des Kindes bei Trennung der Eltern für verfassungskonform an.

Zur Erinnerung: Der VfGH wies den Antrag des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien auf Aufhebung der verpflichtenden Vorschreibung eines hauptsächlichen Aufenthalts des Kindes bei einem Elternteil im Fall getrennt lebender Eltern ab (G 152/ 2015). Laut VfGH hindere das Gesetz nicht, einen Aufenthalt des Kindes zu gleichen Teilen bei beiden Eltern festzulegen. Entgegen der Ansicht des Landesgerichts sei das Recht auf Achtung des Familienlebens nicht verletzt. VfGH-Präsident Gerhart Holzinger sieht in der Festlegung eines hauptsächlichen Aufenthalts des Kindes nur eine „Vorgabe für Formalitäten“ („Die Presse“ vom 24. Oktober).

 

„Heim erster Ordnung“ gewollt

 

Hier irrt der Präsident. Der Gesetzgeber hat mit dem Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz 2001 die Obsorge beider Eltern über das Kind im Fall der Scheidung bzw. der Auflösung der häuslichen Gemeinschaft ermöglicht. Er wollte ausdrücklich festlegen, wo sich das Kind hauptsächlich aufhalten soll. Auszug aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage: „Die Wissenschaft betont immer wieder die Bedeutung des Heimes erster Ordnung. Der Entwurf berücksichtigt diese Erkenntnisse, indem er zwingend eine Vereinbarung der Eltern über den hauptsächlichen Aufenthalt des Kindes fordert.“

 

Auch in der nächsten großen Novelle (Kindschafts- und Namenrechts-Änderungsgesetz 2013) hielt der Gesetzgeber am „Heim erster Ordnung“ fest. Es kam lediglich zu einer begrifflichen Anpassung. Das Gesetz verwendet nun neben dem „hauptsächlichen Aufenthalt“ auch die „hauptsächliche Betreuung“ des Kindes. Inhaltlich änderte sich aber nichts. Wie die Arbeiten zum KindNamRÄG 2013 zeigten, war eine Beseitigung der verpflichtenden Bestimmung des hauptsächlichen Aufenthalts aus politischen und ideologischen Erwägungen gewisser Gruppierungen nicht umsetzbar.

 

Die verpflichtende Vorgabe eines Haushalts der hauptsächlichen Betreuung greift erheblich in die Privatautonomie der Eltern und Kinder ein. Bisher gingen die Mehrzahl der Gerichte und der überwiegende Teil der Lehre auch davon aus, dass diese Vorgabe einen gleichteiligen Aufenthalt der Kinder bei beiden Eltern verhindert. Nur einzelne Bezirksrichter setzten sich darüber hinweg und folgten dem Wunsch der Eltern auf eine gleichteilige Betreuung.

 

Der VfGH sieht die Festlegung des Haushalts der hauptsächlichen Betreuung als Anknüpfungspunkt für andere Rechtsfolgen, wie etwa den Hauptwohnsitz. Was sind das für Rechtsfolgen?

 

Einerseits natürlich die Unterhaltspflicht. Der hauptsächlich betreuende Elternteil (Domizilelternteil) erfüllt durch die Betreuung seine Unterhaltspflicht, während der andere Unterhalt in Geld zu leisten hat. Die Rechtsprechung berücksichtigt allerdings die erhöhte Betreuungsleistung des getrennt lebenden Elternteils. So hielt der OGH fest, dass bei gleichwertigen Betreuungs- und Naturunterhaltsleistungen kein Geldunterhaltsanspruch besteht, wenn beide Eltern etwa gleich viel verdienen (4 Ob 16/13a). Der Domizilelternteil kann auch allein den Wohnsitz des Kindes bestimmen. Der andere Elternteil hat bei beabsichtigten Umzügen nur ein Informations- und Äußerungsrecht. Weiters wirkt sich der Hauptwohnsitz unter anderem auf den Bezug von Familienbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld sowie auf den Besuch von Kindergarten und Schule aus.

 

 

 

Hauptwohnsitz wird ungewiss

 

Eine Gesetzesaufhebung hätte also viel Regelungsbedarf verursacht. Außerdem ist fraglich, wie der Aufenthalt des Kindes bei beiden Eltern mit der Definition des Hauptwohnsitzes in der Bundesverfassung (!) und im Meldegesetz in Einklang zu bringen ist. Ausschlaggebend für den Hauptwohnsitz sind der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen und das überwiegende Naheverhältnis zu einem Wohnsitz. Die Behörde hätte bei der Beurteilung des Hauptwohnsitzes eines Kindes, das in einer Doppelresidenz lebt, wohl auf die tatsächlichen Verhältnisse und nicht auf die bloß „formale“ Festlegung eines Haushalts der hauptsächlichen Betreuung auszugehen. Wo ist dann der Hauptwohnsitz?

 

Es ist begrüßenswert und ein Gewinn für die Eigenständigkeit der Eltern und Kinder, dass ein Aufenthalt des Kindes zu gleichen Teilen bei beiden Eltern möglich ist. Der Staat soll sich auf seine wesentlichen Funktionen beschränken und nicht das Leben der Menschen bestimmen. Die vom VfGH gewählte Vorgangsweise mag die einfachste sein, rechtlich begründet ist sie deshalb aber noch lange nicht.

 

 

Mag. Markus Huber ist stellvertretender Geschäftsbereichsleiter in der Volksanwaltschaft und war Mitglied der Arbeitsgruppe des BMJ für das KindNamRÄG 2013.

 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2015)

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